»Der Inselmann« von Dirk Gieselmann
Eine vergessene Insel, ihr stiller König und die Sehnsucht nach einem Leben abseits der Welt. »Der Inselmann« ist das ebenso berührende wie sprachmächtige Porträt eines Außenseiters und eine Hymne auf den Eigensinn.
Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?
Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende literarische Studie eines Insellebens und erzählt von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die das Individuum niemals alleine lässt, im Guten wie im Schlechten.
»Der Inselmann« ist ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen.
»Dirk Gieselmann hat einen wunderbaren, melancholischen Roman geschrieben. Er errichtet mit Worten eine ganze Welt, einfach und stark und wahr. Mit welcher Neugier und Zärtlichkeit er die inneren Kämpfe seines heranwachsenden Protagonisten schildert, das ist das Gegenteil von Zynismus. Ich habe ›Der Inselmann‹ geliebt.«
Matthias Brandt
Dirk Gieselmann im Interview
Wie bist du zu der Geschichte des Inselmanns gekommen? Gab es einen bestimmten Anlass?
Mit meinem guten Freund, dem Fotografen Tobias Kruse, der auch das Titelbild des Romans gemacht hat, habe ich einmal einen Mann besucht, der seit sechzig Jahren allein auf einer Insel in einem See lebt. Tobias kannte ihn aus seiner Kindheit, aber die Erinnerungen waren so vage geworden, dass er nicht mehr wusste, ob es den Mann wirklich gab oder es sich um die Figur aus einer Schauergeschichte handelte. Er wollte nachsehen, ich durfte ihn begleiten, und wir haben ihn tatsächlich gefunden: einen freundlichen alten Mann, der sich über unseren Besuch gefreut hat. Er hat mit Hans zwar nichts gemein. Aber durch die Begegnung mit ihm begann mein Nachdenken über Einsamkeit, Rückzug aus der Gesellschaft und Weltabgewandtheit.
Im Mittelpunkt deines Romans steht eine ganz besondere Figur. Der stille Einzelgänger Hans Roleder, den wir, lesend, als kleinen Jungen kennenlernen und bis ins Alter begleiten. Was hat dich an dieser Figur interessiert?
Hans hat mich nicht bloß interessiert, es war und ist eine wesentlich intensivere Beziehung. Schon als ich die erste Szene verfasst habe, in der er und seine Eltern auf die Insel übersetzen, und er damit begonnen hat zu existieren, hat sich in mir ein freundschaftliches Gefühl für ihn entwickelt, das an Liebe grenzt. Ich kann ihm nicht über die Hindernisse hinweghelfen, die sein Schicksal – oder genauer gesagt: die sich ab einem gewissen Punkt des Textes verselbständigende Dynamik der Erzählung – ihm in den Weg gestellt hat. Aber wie er versucht, diese Hindernisse zu überwinden, dabei strauchelt und sich immer wieder aufrichtet, welch ein zerbrechlicher und sanfter und doch starker Junge dieser Hans ist – das wollte ich so genau wie möglich beschreiben. Zeuge des Lebens des anderen zu sein, das ist ja auch ein wichtiger Aspekt von Freundschaft.
Im Inselmann scheinen die Menschen oft hinter der Natur zurückzutreten. Das zeigt sich gerade am Beispiel der Insel, auf die sich die Familie Roleder zurückzieht. Ist die Natur und speziell die Insel für dich sogar die eigentliche Protagonistin des Romans?
Sie ist sogar eine Art zweite Erzählerin. Durch Hans vollzieht sich die Geschichte eines Lebens von etwa achtzig Jahren Dauer, durch die Insel vermittelt sich, so hoffe ich, die Vorstellung einer Zeitspanne, die an Ewigkeit grenzt. Sie war immer schon da, und sie wird noch da sein, wenn Hans längst vergangen ist. Auch sie ist Zeugin seines Lebens, aber eine vollkommen gleichgültige. Sie duldet ihn auf ihrem Rücken wie alles andere, die Bäume, die Tiere, den Regen. Ich habe diese Perspektive, auch als Gegengewicht zu meiner eigenen, intensiv teilhabenden Perspektive auf Hans als seltsam tröstlich empfunden.
In deinem Roman beschreibst du immer wieder Momente der Stille. Was fasziniert dich an der Stille und wie lässt sie sich literarisch darstellen, wie hast du sie zu fassen versucht?
Stille ist für mich nicht das Gegenteil von Lärm, nicht das Ausbleiben von akustischen Reizen, nicht die Finsternis der Ohren. Sie hat ihren eigenen Klang, dem man große Aufmerksamkeit und Geduld schenken muss, wenn man ihn wahrnehmen möchte. »Die Stille«, heißt es im Text, »war ein Lied, das vor langer Zeit verklungen war.« Ich habe mit Worten versucht, dieses lang verklungene Lied wieder hörbar zu machen, aber auch durch das Weglassen von Worten – durch Schweigen also, das ja ohnehin angeraten ist, wenn man Stille wahrnehmen möchte.
Die Stimmungen und Kulissen in deinem Roman haben oft etwas Märchenhaftes, fast Surreales und Aufgeladenes. Hattest du bestimmte Vorbilder beim Schreiben des Romans?
Natürlich stehe ich unter dem Einfluss der Bücher, die ich im Laufe meines Lebens gelesen habe und die großen Eindruck hinterlassen haben, von Virginia Woolf etwa oder Cormac McCarthy. Zwei waren mir während des Schreibens ganz nah und präsent: Tomas Tranströmer, bei dem ich entdeckt habe, dass man durch die Weglassung mitunter viel mehr erzählen kann als durch das Hinschreiben. Sein Gedicht »Der Ausreißer« geht so: »Als der Ausreißer gefasst wurde, waren seine Taschen voller Pfifferlinge.« Ich lese darin einen ganzen Abenteuerroman. Und Ingeborg Bachmann, die mich gelehrt hat, dass man die Zeit, die sich einem sonst nur in ihrer banalen Erscheinungsform zeigt, als Termin, als Klingeln des Weckers, als Zuspätkommen, als etwas wesentlich Größeres, Erhabeneres und wie gesagt, seltsam Tröstliches erleben kann.
Du hast den Roman mitunter auch in der Zeit der Corona-Pandemie geschrieben. Hat das deinen Umgang mit dem Motiv der Einsamkeit in deinem Roman beeinflusst oder gar verändert?
Ich habe mit der Arbeit am Roman im Spätsommer 2019 begonnen, als die Vorstellung, allein zu sein, zumindest mal für eine Weile, noch sehr verlockend war. Dann brach die andere Zeit an, und wir alle waren gezwungen, uns zu isolieren, Kontakte einzuschränken, die sogenannte soziale Distanz einzuhalten. Da musste ich den Roman beiseitelegen, weil sein Grundmotiv so plötzlich ins Negative umgeschlagen und mir auf belastende Weise nah war. In dieser Zeit begann ich einen Briefwechsel mit einem Freund, den ich nicht treffen konnte und der mir fehlte. Wir tauschten jeweils nur ein paar Sätze aus, dafür aber täglich. Dieser Austausch und die Sammlung von Gedanken, die daraus entstanden ist, sind für mich zu einem Steinbruch für die weitere Arbeit am Roman geworden, dem ich mich damit wieder anders nähern konnte.
Wenn du Der Inselmann mit einem Song/Klang beschreiben müsstest: welcher wäre das?
»On the Nature of Daylight« von Max Richter.