Der moderne Kriminalroman aus der Perspektive des gejagten Täters ist das Muster, das Wellershoffs zweiter Roman “Die Schattengrenze” aufnimmt und das er zugleich sprengt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der unter dem Druck seiner Umwelt und als Rache für sein eigenes Versagen ein verschwiegenes Delikt begeht, sich immer mehr verstrickt und der nun merkt, daß man ihm auf die Spur kommt. In rasch wechselnden, sich steigernden Geschehnissen und Vorstellungsreihen läuft das ab, eine flackernde Bilderfolge der Angst und Illusion, und immer deutlicher zeigt sich, daß es die Geschichte einer fortschreitenden Entwirklichung ist, eines rapiden Persönlichkeitszerfalls in einer immer wahnhafter gesehenen Welt. Ununterscheidbar wird der Täter vom Opfer gesellschaftlicher Zwänge, die in ihm wirksam sind als eine ihn zerstörende Macht Konkurrenzkampf und Angst vor der Isolation – bis in die Intimität des Sexus ist das anwesend und vergrößert und verfratzt sich zu einem drohenden paranoischen Zusammenhang, der ihn zur Flucht zwingt und dem er nicht entkommt. Im Gegensatz zu Wellershoffs erstem Roman Ein schöner Tag folgt Die Schattengrenze nicht strikt der Chronologie, sondern arbeitet innerhalb einer übergeordneten Chronologie mit Sprüngen in Zeit und Raum, Schnitten und Oberblendungen und variierenden Wiederholungen einzelner Vorgänge, entsprechend der erregten, sich immer mehr verzerrenden Erlebnisweise der Hauptperson.