Leseprobe zu »Man kann auch in die Höhe fallen«

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Mutter isst

 

Als der Zug im Bahnhof einfuhr, sah ich meine Mutter bereits  auf  dem  Bahnsteig  stehen,  lässig  an  ein  Geländer  gelehnt. Sie aß etwas, beherzt biss sie ab, trug ein leichtes Sommerkleid, Fähnchen nennt sie diese, und war braun gebrannt wie eh und je. Niemand wäre jemals darauf gekommen, dass sie  bereits  sechsundachtzig  war.  Dreißig  Jahre  älter  als  ich.  Als sie so alt war wie ich jetzt, war ich sechsundzwanzig. Ich habe  mit  diesem  Sechsundzwanzigjährigen  nicht  mehr  viel  gemein,  aber  meine  Mutter  scheint  mir  unverändert.  Der  Fahrtwind  des  einfahrenden  Zuges  wirbelte  in  den  leichten  Stoff ihres Kleides hinein. Ich stieg aus, sie sah mich, und wir gingen aufeinander zu. Sie kaute und schluckte, wischte sich mit einer Serviette über den Mund, und als wir uns umarmten,  hielt  sie  ein  durch  gefettetes  Papier  von  uns  weg.  »Was  isst  du  denn  da?  Das  riecht  ja  heftig.«  »Der  Döner  hier  ist  köstlich«, meine Mutter wischte sich mit der Serviette über den Mund, »aber zu viel. Dass der Zug so pünktlich kommt, ist ja auch eher ungewöhnlich. Damit war nicht zu rechnen. Ich hatte gehofft, dass ich noch in Ruhe aufessen kann. Willst du mal beißen?« Sie hielt mir den Döner vor das Gesicht und wedelte damit herum, als würde er so schmackhafter. »Machst du das öfter?«, fragte ich erfreut. »Alleine am Bahnhof einen Döner essen?« »Na klar! Immer, wenn ich jemanden abhole oder hinbringe. Bringen ist allerdings viel besser. Da setze ich mich dann auf eine Bank und trinke ein Bier dazu, und meistens bin ich ja auch heilfroh, wenn jemand wieder weg ist!« Wir umarmten uns so, wie wir uns stets aufgrund des enormen Größenunterschieds umarmten. Meine Mutter legte ihren Kopf auf meine Brust und verharrte bewegungslos für einen innigen Augenblick, als würde sie mein Herz abhorchen. Ihr Haar kitzelte unter meinem Kinn. Gab es das sonst noch irgendwo  im  Tierreich,  dass  männlicher  Nachwuchs  derart  die Mütter überragte? Es gibt Fotos von mir und meinen bei-den Brüdern, auf denen drei Männer von ein Meter neunzig um  eine  kleingewachsene  zierliche  Frau  gruppiert  sind  und  es kaum möglich scheint, dass diese Riesen ihre Kinder sein könnten. Der Kopf meiner Mutter, ihr Haar unter meinem Kinn.  Ich  zog  meinen  orangen  Rollkoffer  Richtung  Auto  über  den  Parkplatz.  Meine  Mutter  war  an  mir  vorbeigeeilt,  drehte sich um und rief: »Nun mach mal, mein lieber Sohn, ich hab noch eine Verabredung.« Den nur zur Hälfte gegessenen Döner wickelte sie in die fettige Serviette ein und legte ihn nach dem Einsteigen neben dem Schaltknüppel ab. Da sie nicht sehr groß ist, stapelt sich meine Mutter stets mehrere Kissen auf den Fahrersitz. Jahrzehntelang hatte sie sich nicht angeschnallt, und erst, als es keine Modelle mehr ohne Warnsignale  gab,  missmutig  damit  angefangen.  Gurte  und  meine Mutter hatten schon immer auf Kriegsfuß gestanden. Alle paar Minuten rupfte sie sich diesen von der Brust und holte  demonstrativ  tief  Luft,  um  alle  Mitfahrenden  auf  das  ihr   auferlegte   Gurtmartyrium   aufmerksam   zu   machen.   Meine  Mutter  fuhr  schnell  und  kannte  die  Strecke  gut,  so  gut, dass sie, wie ich es sonst nur aus Filmen kannte, viel zu lang  zu  mir  herübersah.  »Du  siehst  aber  ganz  schön  mitgenommen  aus,  lieber  Sohn,  ganz  blass  und  ernsthaft.  Ich  werde dich gut aufpäppeln, und im Garten gibt es wahnsinnig viel zu tun. Die grüne Hölle wartet bereits auf dich.« Wir sausten  im  roten  Kleinwagen  über  die  Landstraße,  und  ich  wurde von ihrem rasanten Fahrstil hin und her geschaukelt. »Was sagt denn deine Familie dazu, dass du so ganz allein zu mir aufs Land kommst?« »Die sind heilfroh, dass sie mich los sind. Ich gehe allen schrecklich auf die Nerven. Ich hab mich schlimm  benommen.  Erzähle  ich  dir  später.«  Ich  schwieg  eine sanft geschwungene Kurve lang. »Ich bin nicht gut beieinander,  Mama.«  Welche  Auswirkungen  es  haben  würde,  das  Wort  Mama  auszusprechen,  hatte  ich  nicht  geahnt.  Es  machte mich schlagartig wehrlos. Die zwei Ms und die zwei As  sind  wohl  die  älteste  Formel,  um  lang  zurückgehaltene  Tränen zu lösen. Die Ms summen in der Nase und den Lippen, die As sind Klagelaute, öffnen die Kehle, und los geht es. Ich ließ mich nach vorne auf das Handschuhfach sinken und schluchzte: »Es ist alles so beschissen, Mama, so unendlich  beschissen.  Diese  ganze  Zeit  ist  so  unfassbar  mühsam.  Nichts passt mehr zusammen. Alles knirscht. Jeder einzelne Tag. Ich hab mich danebenbenommen. Ich hab was Schlimmes gemacht. Ich hasse mich!« Meine Mutter beschleunigte und  zupfte  mir  etwas  von  der  Schulter.  »Ach,  mein  lieber  Sohn, das klingt ja dramatisch. Jetzt bist du ja da. Wir gehen heute  noch  schwimmen.  Das  wird  dich  erfrischen.  Es  gibt  nur wenige Feuerquallen dieses Jahr, und ich hab schon Kortison für dich besorgt.« Sie streichelte meine Schulter, sah zu mir  he  rüber  und  drückte  das  Gaspedal  durch.  Das  kleine  Auto erschrak, legte sich zittrig in die Kurven, wodurch der Restdöner  mehr  und  mehr  zu  riechen  begann.  Die  Fliehkräfte schienen den Gestank zu ermuntern, sich weiter auszubreiten. Ich hatte beim Umsteigen in Kiel, meinen Cholesterinwerten zum Trotz, aus reiner Nordnostalgie eine riesige Puddingbrezel  gegessen.  Der  Kummer  und  der  Döner,  der  Pudding und die Kurven, der Gurt, das starke Parfüm meiner Mutter, welches auch das ihrer Mutter, meiner Großmutter, gewesen  war  –  Shalimar  –,  drehten  mir  den  Magen  um.  »Mama«, rief ich schluckend, »bitte halt an. Mir wird plötzlich so komisch.« »Komisch? Wovon denn komisch?« »Bitte halt an. Schnell.« »Wo denn? Was machst du denn für Geräusche? Warte, gleich.« Mit viel zu hoher Geschwindigkeit bog sie rechtwinkelig in einen Holperweg ein. Ich hüpfte im Sitz auf und ab, und das Schlaglochballett gab mir den Rest. Der Döner sprang mir auf die Füße. »Halt an!«, schrie ich. »Warte, gleich kannst du raus!«, rief sie zurück, bretterte aber völlig  unbeeindruckt  weiter  über  die  Piste,  Staub  wirbelte  vom Feldweg auf. »Was tust du denn, Mama?« Ich hielt mir beide  Handflächen  vor  den  Mund  und  versuchte,  durch  Druck den drohenden Schwall niederzupressen, einen Riegel in meiner Kehle zuzuschieben. Doch es war zu spät. Ich kurbelte die Scheibe hinunter, hielt meinen Kopf aus dem Fenster und übergab mich. Meine Mutter rief: »Um Gottes willen!«, und fuhr Schlangenlinien, um mehreren Schlaglöchern auszuweichen. Das Erbrochene flog teilweise davon, teilweise sauste es vom Gegenwind getrieben über den roten Lack. Ich brüllte: »Stopp! Stopp jetzt!«, und meine Mutter machte eine Vollbremsung, die uns beide katapultartig nach vorne warf. Ich öffnete die Beifahrertür und wankte ein Stück den Feldweg entlang vom Auto weg, ging in die Hocke und übergab mich abermals. Sie kam zu mir, stand neben mir, bewegungslos, und ich spürte ihren Blick im Genick. Ich sah, wie sich ihre rot lackierten Fußnägel in den eleganten hochhackigen Sommersandalen zu Krallen krümmten. Da legte sie mir die Hand auf den Rücken. »Geht’s?« Ich atmete tief ein und aus, gegen  die  Magenkrämpfe  an.  »Du  hättest  doch  einfach  an-halten können«, stöhnte ich entkräftet. »Es hat so geholpert und gestaubt. Tut mir leid.« »Was?« »Na, dass ich da immer weitergefahren bin.« »Ja, aber warum denn nur, Mama? Die Frage  ist  doch:  Warum?«  »Keine  Ahnung«,  sagte  sie  heiter,  »ich dachte, es kann so schlimm nicht sein.« Als ich aufsah, erstreckte sich vor mir ein Kornfeld. Es war eine wohltuend überschaubare  Angelegenheit.  Die  sommerlich  goldgelbe  Weite und der blaue Himmel mit den imposanten Haufen-wolken.  Heimat  aus  nur  drei  Zutaten.  »Wenn  es  dir  besser  geht,  würde  ich  gerne  weiterfahren.  Hetz  dich  nicht,  ich  finde  es  schön  hier,  aber  ich  bin  ein  bisschen  knapp  dran.«  »Geht  gleich  wieder,  Mama.  Hättest  du  vielleicht  einen  Schluck Wasser für mich?« »Wasser? Ich trinke kein Wasser. Was ihr immer alle mit diesem permanenten Wassertrinken habt.« »Wo willst du eigentlich so dringend hin?« »Ich muss noch Noten abholen. Ich hab am Sonntag mein Sommerfest der  Kantorei.  Zwanzig  alte  Damen  kommen  da.«  Meine  Mutter half mir auf, kraftvoll und bestimmt, und ich schlingerte zurück zum Wagen. Plötzlich lachte sie los. »Du lieber Himmel! Wie du aussiehst! Schwarz angezogen und so käse-blass. Genauso stelle ich mir den Tod vor, wenn er mich holen kommt. Fehlt nur noch die Sense.« Als ich mich wieder gesetzt hatte, wendete sie nicht etwa auf dem Feldweg, sondern  fuhr  mit  aufjaulendem  Motor  im  Rückwärtsgang  auf  die Hauptstraße zu. Ein Auto kam mit hoher Geschwindigkeit näher, dennoch schnellte meine Mutter rückwärts vom Feldweg  auf  die  Straße  hinaus,  schaltete  ruckartig  in  den  Vorwärtsgang  und  sagte,  während  der  Fahrer  hinter  uns  scharf  abbremsen  musste  und  wutentbrannt  hupte:  »Tja,  manchmal  muss  man  eben  flott  sein.«  Nach  nur  wenigen  Metern roch ich bereits wieder den Döner zwischen meinen Schuhen. Ich nahm ihn mit spitzen Fingern vom Boden und schleuderte  ihn  aus  dem  Fenster,  wobei  mir  ein  wenig  Dönersoße auf die Hose tropfte. Hinter uns wurde abermals mit Nachdruck die Hupe betätigt. Ich drehte mich um und sah einen  Mann,  der  sich  wie  wild  mit  dem  Zeigefinger  an  die  Stirn  hämmerte.  Meine  Mutter  blickte  bereits  wieder  ewig  lange  zu  mir  herüber,  was  mich  mehr  und  mehr  nervös  machte, und schüttelte den Kopf über die entsorgte Köstlichkeit.  »Sag  mal,  hast  du  da  etwa  gerade  meinen  Döner  aus  dem Fenster geworfen?« »Hab ich, Mama, ja das hab ich. Der lag auf der Fußmatte.« Sie machte ein bekümmertes Gesicht, zog  wie  ein  trauriger  Clown  die  Mundwinkel  nach  unten:  »Schon schade«, beklagte sie sich, »ich hatte eigentlich noch Hunger.«  »Mein  Gott,  Mama«,  rief  ich  ängstlich,  »würdest  du bitte mal auf die Straße gucken und nicht andauernd zu mir.«  »Ach  weißt  du«,  säuselte  sie,  »ich  hab  dich  so  lange  nicht  gesehen.  Du  bist  mir  ganz  fremd  geworden.«  »Zu  Hause kannst du mich in aller Ruhe betrachten, falls wir da lebend  ankommen  sollten.  Versprochen.«  »Keine  Zeit.  Ich  lasse dich nur kurz raus und muss dann gleich weiter.« Wir fuhren  durch  die  Landschaft,  durch  das  hügelige  Angeln.  »Gab  es  nicht  mal  einen  Dr.  Döhner,  als  ich  klein  war?«,  fragte ich. »Na selbstverständlich. Dr. Döhner. Der war jahrelang  der  Leiter  der  Erwachsenen-Psychiatrie.  Ein  guter  Freund deines Vaters. Wie kommst du denn jetzt auf den?« »Na wegen dem Gestank.« »Was meinst du?« Meine Mutter mochte es nicht, wenn sie etwas nicht augenblicklich begriff. »Na, dein Lieblingsessen vom Bahnhofsimbiss.« »Du meine Güte!«, stöhnte sie. »Die schreibt man doch völlig verschieden: Döner und Döhner.« »Klingen aber gleich.« »Ich dachte, deine  Legasthenie  hätte  sich  gebessert.  Dr. Döhner  schreibt  man mit h.« Ich grinste vor mich hin, berührte nur mit den Schuhspitzen die Fußmatte, in deren Rauten sich Fleischsaft gesammelt hatte. Ich verstellte meine Stimme: »›Guten Tag, Dr.  Döhner!  Was  darf ’s  denn  heute  sein?‹    ›Lassen  Sie  mich  kurz überlegen: Ich nehm heut mal nen Döner.‹ ›Kommt sofort, Herr Dr. Döhner.‹« Meine Mutter reagierte lange nicht, dann  sagte  sie  trocken:  »Na,  dir  scheint  es  ja  schon  wieder besser zu gehen«, und überholte in einer viel zu engen Kurve einen staubenden Mähdrescher. Ich kniff die Augen zusammen ob des waghalsigen Manövers. Ich hatte allmählich genug von dieser Mutter-und-Sohn-Rallye. »Was ist größer als die Freiheitsstatue?«, fragte ich sie und wartete die Antwort nicht ab. »Dein Schutzengel, Mama. Du fährst wie eine besengte  Sau.«  »Ach  was,  ich  kenn  die  Strecke  so  gut.  Da  kommt selten einer. Und außerdem heißt es nicht ›besengte Sau‹, sondern ›gesengte Sau‹, mein lieber Schriftstellersohn.« Wir bogen in die Sackgasse ein, an deren Ende unser Häuschen lag. In dieses Sträßchen einzubiegen, stimmte mich immer  wieder  aufs  Neue  glücklich.  »Schau  mal  da«,  forderte  mich meine Mutter auf. »Bauer Mommsen hat eine Blumen-wiese gesät. Seine Kühe mussten alle geschlachtet werden, die hatten  einen  Pilz  am  Euter.  Kornblumen  und  Sonnenblumen.  Wunderschön.  Blau,  Gelb.«  Wir  kamen  an  der  Stelle  vorbei, wo man weit über eine Wiese schauen konnte und je-der  aus  der  Familie  etwas  langsamer  fuhr,  um  nach  Rehen  Ausschau  zu  halten.  Sehr  verlässlich  ästen  sie  dort,  und  so  auch  heute.  Eine  Ricke  mit  ihrem  nicht  mehr  ganz  jungen  Kitz. Wir erreichten unser Haus. Das erst letztes Jahr frisch gedeckte Reetdach, das hell gestrahlt hatte, war bereits wie-der ergraut. »Komm, steig aus.« »Halt doch bitte ganz kurz an.« »Steig aus, steig aus. Ich muss weiter.« Wie gut ich das kannte. Schon immer hatte sich meine Mutter schwer damit getan,  für  jemanden,  der  einsteigen  oder  aussteigen  wollte,  den Wagen kurz vollkommen zum Stehen zu bringen. Egal ob sie mich zum Kindergarten gebracht oder von der Schule abgeholt hatte, immer war ich in das oder aus dem langsam rollenden  Fahrzeug  gesprungen.  So  auch  heute.  Ich  lief  im  Schritttempo hinter dem Wagen her, öffnete den Kofferraum und  wuchtete  mein  Gepäckstück  heraus.  Sobald  ich  die  Klappe zuschlug, stieg meine Mutter aufs Gas und rief: »Um sechs  gibt  es  Whisky,  und  um  sieben  fahren  wir  ans  Meer,  dann ist es schön leer.« Ich ließ meinen Koffer im Hof stehen, da es mir zu müh-sam war, ihn über den Kies zu tragen, ging in den Garten und legte mich auf eine der Liegen. Jetzt, in diesem Augenblick, dachte  ich,  hast  du  die  Stadt,  hast  du  das  verhasste  Berlin  wirklich hinter dir gelassen. Unweit von meinem Liegeplatz war am Stamm eines Kirschbaumes eine metallene Apparatur angebracht,  in  der  eine  mehrfach  durchlöcherte  Zielscheibe  steckte, wie ich sie vom Luftgewehrschießen auf Jahrmärkten kannte. Seltsam, dachte ich, während ich mich streckte, wer machte hier Schießübungen, und warum? Ich wischte mir mit der Hand die Stirn glatt, die sich oft unbemerkt  in  Falten  legte,  und  drückte  mir  die  Augenlider  zu. Nun war ich tatsächlich angekommen. Endlich. Auf dem Land. Bei meiner Mutter.