Drei Fragen an Jessy Wellmer »Die neue Entfremdung«
Drei Fragen an Jessy Wellmer
Warum wollten Sie dieses Buch schreiben?
Ich habe lange gedacht, mich geht dieses Ost-West-Ding eigentlich nichts an. Ich war Kind, als die Mauer fiel. Ich habe weder in der DDR noch im Westen irgendwelche persönlichen Nachteile erlebt. Ich hatte da keine Rechnung offen. Und ich hatte das Gefühl, die Wunden, die viele in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung erlitten haben, wären langsam verheilt. Aber das stimmt nicht. Bei vielen sind die Gefühle der Verunsicherung, der Demütigung und der Zweitklassigkeit noch sehr lebendig. Oder sie sind es wieder geworden. Ich glaube, dass die Auseinandersetzung um Russlands Überfall auf die Ukraine das wieder aufgewühlt hat. Dass mancher die Kritik an Putins Russland irgendwie auf sich bezogen hat. Als ginge es „wieder gegen den Osten“. Das war eine neue Entfremdung. Und die beunruhigt mich vor allem deshalb, weil sie bei vielen zu einer Abkehr von der Demokratie führt.
Und aus dieser Beobachtung und dieser Beunruhigung entstand dieses Buch?
Ja, ich habe gemerkt, dass mich das eben doch betrifft. Und dass ich mich – sozusagen als Kind des wiedervereinigten Deutschlands – damit beschäftigen muss. Es ist vieles nicht aufgearbeitet. Das, was vor 1989 war: die DDR und was sie mit den Menschen gemacht hat, wie jeder einzelne damit umgehen musste, wie lange das nachwirkt. Und dann das, was nach dem Ende der DDR kam: der plötzliche Umbruch, das Gefühl des Heimatverlusts, der Unterlegenheit, für sehr viele der Verlust des Jobs, Unsicherheit, Ratlosigkeit. Und viele im Westen haben diese Gefühle nicht verstanden oder sie verstärkt. Manchmal aus Überheblichkeit und oft aus Desinteresse und Ignoranz. Und das ist ja vielfach bis heute so. Im Osten passiert so viel Unterschiedliches, und im Westen gucken da viele drauf, als wäre der Osten immer noch ein anderes Land.
Und kommt Deutschland da wieder raus?
Das hoffe ich. In meinem Buch habe ich versucht, für mich zu klären, was da eigentlich schiefgegangen ist. Vieles ist mir auch erst klar geworden, als ich an dem Buch gearbeitet habe. Und ich würde meine Leserinnen und Leser in Ost und West gerne daran teilhaben lassen. Es gibt vieles, was wir zu besprechen haben. Was wir als Ostdeutsche und Westdeutsche untereinander und miteinander zu klären hätten. Es ist so vieles unausgesprochen. Und so viele Menschen – in Ost und West – sind sehr festgelegt in ihrem Bild von der „anderen Seite“. Das vererbt sich sogar weiter – von einer Generation zur nächsten. Aber ich glaube, dass sich da noch was lösen lässt, wenn wir uns ein bisschen Mühe geben. Dazu möchte ich beitragen. Ich dachte, es geht mich nichts an – und dann stellte sich raus, es ist so was wie mein Lebensthema.