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»Every« von Dave Eggers

»Every« - Dave Eggers' rasante Fortschreibung seines Weltbestsellers »Der Circle«!

»Every« von Dave Eggers

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Übersetzt von: Klaus Timmermann und Ulrike Wasel

EVERY

oder ENDLICH EIN GEFÜHL VON ORDNUNG
oder DIE LETZTEN TAGE DES FREIEN WILLENS
oder GRENZENLOSE AUSWAHL ZERSTÖRT DIE WELT

Der Circle ist die größte Suchmaschine gepaart mit dem größten Social-Media-Anbieter der Welt. Eine Fusion mit dem erfolgreichsten Onlineversandhaus brachte das reichste und gefährlichste – und seltsamerweise auch beliebteste – Monopol aller Zeiten hervor: Every.

Delaney Wells ist »die Neue« bei Every und nicht gerade das, was man in einem Tech-Unternehmen erwarten würde. Als ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikskeptikerin bahnt sie sich heimlich ihren Weg, mit nur einem Ziel vor Augen: die Firma von innen heraus zu zerschlagen. Zusammen mit ihrem Kollegen, dem nicht gerade ehrgeizigen Wes Kavakian, sucht sie nach den Schwachstellen von Every und hofft, die Menschheit von der allumfassenden Überwachung und der emojigesteuerten Infantilisierung zu befreien. Aber will die Menschheit überhaupt das, wofür Delaney kämpft? Will die Menschheit wirklich frei sein?

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© Brecht van Maele
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Der größte Spaß des Buches ist die ständige Steigerung der technologischen Zumutungen, die schließlich für eine der komischsten Szenen im Buch sorgt. Algorithmen entlarven den über-woken Mann, der Präsident werden will, bei seinem Firmenbesuch als Lüstling. 2013 holte die Wirklichkeit "The Circle" zwischen Abgabe des Manuskripts und Veröffentlichung ein. Im Juni enthüllte Edward Snowden die Überwachungsprogramme der NSA und anderer Geheimdienste. Im Oktober erschien der Roman. Dieses Mal ist die Taktung etwas besser. Am vergangenen Sonntag trat Frances Haugen an die Öffentlichkeit. Am Freitag nun erscheint "Every". Buch der Stunde nennen Fernsehmoderatoren so was gerne.

Andrian Kreye, Süddeutsche Zeitung 6. Oktober 2021

Leseprobe »Every« von Dave Eggers

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I.
Delaney trat aus der dämmrigen U-Bahn in eine Welt aus reinem Licht. Es war ein klarer Tag, und die Sonne, die auf die unzähligen Wellen der Bucht traf, warf goldene Funken in alle Richtungen. Delaney wandte dem Wasser den Rücken zu und ging die rund hundert Schritte bis zum Every-Campus.
Schon das allein – die U-Bahn zu nehmen, sich unbegleitet und zu Fuß dem Tor zu nähern – machte sie zu einer Anomalie und irritierte die beiden Posten in ihrem Wachhaus. Ihr Arbeitsplatz war aus Glas und pyramidenförmig, wie die Spitze eines Kristallobelisks.
»Sie sind hierher gelaufen?«, fragte der weibliche Wachposten. ROWENA, ihrem Namensschild nach, war um die dreißig, schwarzhaarig und trug ein adrettes gelbes Top, hauteng wie ein Fahrradtrikot. Als sie lächelte, kam eine charmante Lücke zwischen ihren Vorderzähnen zum Vorschein. Delaney nannte ihren Namen und sagte, sie habe ein Vorstellungsgespräch mit Dan Faraday.
»Finger bitte«, sagte Rowena.
Delaney drückte ihren Daumen auf den Scanner, und auf Rowenas Monitor erschien ein Raster aus Fotos, Videos und Daten. Es waren Fotos von Delaney, die sie selbst noch nicht gesehen hatte – war das eine Tankstelle in Montana? Auf den Ganzkörperaufnahmen hatte sie eine gekrümmte Haltung, die Folge davon, dass sie als Teenager zu groß geraten war. Delaney stellte sich gerader hin, während ihr Blick über die Bilder glitt, die sie in ihrer Park-Ranger-Uniform zeigten, in einer Mall in Palo Alto, in einem Bus, der anscheinend durch Twin Peaks fuhr.
»Sie haben sich die Haare wachsen lassen«, sagte Rowena.
»Sind aber immer noch ziemlich kurz.«
Delaney fuhr sich reflexartig mit den Fingern durch den vollen schwarzen Bubikopf.
»Hier steht, Sie haben grüne Augen«, sagte Rowena. »Sehen aber braun aus. Treten Sie bitte näher.« Delaney trat näher. 
»Ah! Hübsch«, sagte Rowena. »Ich geb Dan Bescheid.«
Während Rowena Faraday anrief, stand der zweite Wachposten, ein hagerer Mann um die fünfzig mit einem britischen Akzent, vor einer anderen Herausforderung. Ein weißer Van war vorgefahren, und der Fahrer, ein rotbärtiger Mann, der ein gutes Stück höher als das Wachhausfenster saß, erklärte, er habe eine Lieferung.

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»Was für eine Lieferung?«, fragte der hagere Wachmann.
Der Fahrer drehte sich kurz in seinem Sitz um, als wollte er sich vergewissern, dass seine bevorstehende Beschreibung stimmte. »So ein Haufen Körbe. Geschenkkörbe. Stofftiere, Pralinen und so«, sagte er.
Jetzt schaltete sich Rowena ein, von der Delaney annahm, dass sie in dem Glasobelisken das Sagen hatte. »Wie viele Körbe?«, fragte sie mit Blick auf einen Monitor im Wachhaus.
»Keine Ahnung. Etwa zwanzig«, sagte der Fahrer.
»Und werden die von jemandem erwartet?«, fragte Rowena.
»Keine Ahnung. Ich denke, die sind vielleicht für potenzielle Kunden«, sagte der Fahrer, der plötzlich erschöpft klang.
Dieses Gespräch zog sich offensichtlich schon sehr viel länger hin, als er das gewohnt war. 
»Oder es sind Geschenke für Leute, die hier arbeiten«, sagte er, nahm ein Tablet vom Beifahrersitz und tippte ein paarmal darauf herum. 
»Hier steht, die sind für Regina Martinez und das Initiative K Team.«
»Und wer ist der Absender?«, fragte Rowena. Sie klang jetzt fast amüsiert. Es war klar, zumindest für Delaney, dass diese spezielle Lieferung ihr Ziel nicht erreichen würde.
Wieder konsultierte der Fahrer sein Tablet. »Hier steht, Absender ist etwas namens MDS. Bloß M-D-S.« 
Jetzt hatte die Stimme des Fahrers einen fatalistischen Ton angenommen. Würde es etwas ändern, so schien er sich zu fragen, wenn er wüsste, wofür MDS stand?
Rowenas Gesicht entspannte sich. Sie murmelte in ein Mikrofon, sprach offenbar mit einer anderen Security-Bastion innerhalb von Every. 
»Ist schon gut. Ich hab’s im Griff. Wird abgelehnt.« Sie nickte dem Fahrer mitfühlend zu. 
»Sie können gleich da vorne wenden.« Rowena zeigte auf einen Wendehammer fünfzehn Meter weiter.
»Soll ich die Körbe da ausladen?«

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Rowena lächelte wieder. »Oh nein. Wir haben keine Verwendung für Ihre …« – die Pause schien dafür gedacht, genug Verachtung in das nächste, bislang so harmlose Wort zu legen – »Körbe.«
Der Fahrer hob die Hände gen Himmel. 
»Seit zweiundzwanzig Jahren fahre ich Lieferungen aus, und noch nie ist eine abgelehnt worden.« Er sah Delaney an, die noch immer neben dem Wachhaus stand, als suchte er in ihr eine potenzielle Verbündete. Sie wandte den Blick ab und betrachtete das höchste Gebäude auf dem Campus, einen aluminiumverkleideten gewundenen Turm, der Algo Mas beherbergte, den Algorithmus-Thinktank des Unternehmens.
»Erstens«, erklärte Rowena, die sich offensichtlich nicht für die berufliche Erfolgsgeschichte des Fahrers interessierte, »Ihre Ladung entspricht nicht unseren Sicherheitsvorgaben. Wir müssten jeden einzelnen Ihrer …« – wieder spuckte sie das Wort förmlich aus – »Körbe durchleuchten, und dazu sind wir nicht bereit. Zweitens, das Unternehmen hat Richtlinien, die es untersagen, nicht nachhaltige oder unsachgemäß beschaffte Waren auf den Campus zu lassen. Ich vermute, diese Körbe« – es klang aus ihrem Mund jetzt wie ein Schimpfwort – »enthalten aufwendige Plastikverpackungen? Und verarbeitete Lebensmittel? Und Obst aus der Intensivlandwirtschaft ohne Bio- oder Fair-Trade-Siegel, höchstwahrscheinlich mit Pestiziden besprüht? Sind vielleicht auch Nüsse in diesen« – noch mehr Gehässigkeit – »Körben? Ich nehme es an, dieser Campus aber ist nussfrei. Und sagten Sie nicht was von Stofftieren? Völlig ausgeschlossen, dass ich Ihnen erlaube, billige, nicht biologisch abbaubare Spielsachen auf den Campus zu bringen.«
»Sie akzeptieren keine nicht biologisch abbaubaren Spielsachen?«, fragte der Fahrer. Er hatte jetzt eine Hand gegen das Armaturenbrett gestemmt, als müsste er sich abstützen, um nicht zusammenzubrechen.
Rowena atmete geräuschvoll aus. »Sir, hinter Ihnen warten jetzt schon einige Fahrzeuge. Sie können da gleich hinter dem Wachhaus wenden.« Sie zeigte auf den Wendehammer, auf dem sicherlich den ganzen Tag lang von Every unerwünschte Menschen, Lastwagen und Waren ihren Rückweg in die ungeprüfte Welt antraten. Der Fahrer starrte Rowena lange an, bevor er schließlich seinen Van startete und Richtung Wendehammer rollte.

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Die Szene war in vielerlei Hinsicht merkwürdig, dachte Delaney. Schon allein der nicht zu Every gehörende Auslieferungsfahrer. Fünf Jahre zuvor hatte der Circle einen E-Commerce-Giganten aufgekauft, der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war. So war das reichste Unternehmen entstanden, das die Welt je gesehen hatte. Die Übernahme machte es erforderlich, dass der Circle seinen Namen in Every änderte, was den Unternehmensgründern einleuchtend und zwangsläufig erschien, da es Allgegenwart und Gleichheit suggerierte. Auch der E-Commerce-Riese war froh über einen Neuanfang. Man hatte den ehemals rationalen, ehemals verlässlichen Online-Marktplatz zu einer chaotischen Wüstenei von dubiosen Verkäufern, Produktfälschungen und offenem Betrug verkommen lassen. Das Unternehmen hatte alle Kontrolle und Verantwortung aus der Hand gegeben, worauf hin die Kunden sich nach und nach zurückzogen; niemand lässt sich gern betrügen oder täuschen. Als das Unternehmen den Kurs korrigierte, hatte
es das Vertrauen der wankelmütigen Öffentlichkeit bereits verloren. Der Circle arrangierte eine Aktienübernahme, und der Gründer des E-Commerce-Giganten, zunehmend durch Scheidungen und Gerichtsverfahren abgelenkt, ließ sich nur allzu gern auszahlen. Zusammen mit seiner vierten Frau widmete er sich fortan der Erkundung des Weltraums, schließlich planten die beiden, ihren Lebensabend auf dem Mond zu verbringen.
Nach der Akquisition wurde ein neues Logo entworfen. Es bestand im Wesentlichen aus drei Wellen, die um einen vollkommenen Kreis wirbelten, und deutete das Strömen von Wasser an, das Auf blitzen neuer Ideen, Interkonnektivität, Unendlichkeit. Beliebt oder nicht, es stellte auf jeden Fall eine Verbesserung gegenüber dem früheren Logo des Circle dar, das an einen Gullydeckel erinnert hatte, und übertraf das langjährige Logo des E-Commerce-Giganten, ein verlogenes Grinsen, ohnehin. Da die Verhandlungen angespannt und schließlich feindselig verlaufen waren, war es jetzt, nach Abschluss der Fusion, unklug, den früheren Namen des E-Commerce-Unternehmens auf dem Campus zu benutzen. Falls es überhaupt erwähnt wurde, hieß es nur der dschungel, wobei das kleingeschriebene d Absicht war.

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Der Circle war seit seiner Gründung im nahen San Vincenzo angesiedelt, doch eine zufällige Kette von Ereignissen brachte das Unternehmen nach Treasure Island, eine größtenteils künstlich angelegte Insel mitten in der San Francisco Bay – und eine Erweiterung der natürlichen Insel Yerba Buena. Auf der 1938 aufgeschütteten Landmasse hatte ursprünglich ein neuer Flughafen gebaut werden sollen. Doch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte man die Insel zum Militärstützpunkt, und in den Jahrzehnten danach wurde der Flickenteppich aus Flugzeughangars allmählich in Werkstätten, Winzereien und bezahlbaren 
Wohnraum umgewandelt – mit atemberaubender Aussicht auf die Bucht, die Brücken und die Berkeley Hills. Dennoch, aufgrund des unbekannten militärischen (und mutmaßlich giftigen) Mülls, der unter dem meterdicken Beton begraben lag, zeigten große Bauträger kein Interesse an dem Areal.
In den 2010er-Jahren aber handelten Spekulanten schließlich eine Risikominderung aus, und es wurden wunderbare Pläne entworfen. Ein neuer Hafen entstand, die Insel bekam eine U-Bahn-Station, und zum Schutz vor dem erwarteten Anstieg des Meeresspiegels in den folgenden Jahrzehnten wurde um das ganze Gelände herum eine ein Meter zwanzig hohe Mauer errichtet. Dann kamen die Pandemien, der Finanzfluss versiegte, und die Insel war zum Spottpreis zu  haben. Der einzige Haken bestand in den kalifornischen Gesetzen, die verlangten, dass der Öffentlichkeit Zugang zum Uferbereich gewährt werden musste. Every ging erst diskret, dann öffentlich dagegen an, jedoch ohne Erfolg, sodass eine fünfeinhalb Meter breite Uferzone um die Insel herum für jeden zugänglich blieb, der dorthin gelangen konnte.

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© Brecht van Maele

»Delaney Wells?«
Delaney fuhr herum und sah einen Mann Anfang vierzig vor sich stehen. Sein Kopf war kahl geschoren, und er hatte große braune Augen, die von einer randlosen Brille noch vergrößert wurden. Der Kragen seines schwarzen Reißverschluss-Shirts war hochgeschlagen, seine Beine steckten in einer engen grünen Jeans.
»Dan?«, fragte sie.
Seit den Pandemien galt Händeschütteln als hygienisch bedenklich – und aggressiv, wie viele fanden –, aber man hatte sich auf keine Ersatzbegrüßung einigen können. Dan entschied sich, einen imaginären Zylinder zu ziehen. Delaney verbeugte sich knapp.
»Gehen wir ein Stück?«, fragte er und schlüpfte an ihr vorbei durch das Tor. Er spazierte nicht auf den Campus, sondern hinaus auf den schmalen Uferstreifen von Treasure Island, der Every umgab.
Delaney folgte ihm. Sie hatte gehört, dass die meisten ersten Vorstellungsgespräche bei Every so abliefen. Um das Risiko auszuschließen, dass der Campus kontaminiert wurde, sollten weder Menschen noch biologisch nicht abbaubare Spielsachen, die nicht durchleuchtet worden oder ausdrücklich erwünscht waren, hereingelassen werden. Jede neue Person stellte ein Risiko dar, und da Bewerberinnen wie Delaney keine Sicherheitsfreigabe hatten und nicht gründlich überprüft worden waren – abgesehen von drei oberflächlichen KI-Screenings –, war es ratsam, das erste Gespräch außerhalb des Campus zu führen. Dan sagte jedoch etwas anderes.
»Ich muss auf meine Schritte kommen«, erklärte er und zeigte auf sein Oval, ein allgegenwärtiges Armband, das zahllose Gesundheitswerte maß und von sämtlichen Versicherern und den meisten Behörden verlangt wurde.
»Ich auch«, sagte Delaney und zeigte auf ihr eigenes Oval, das sie mit Inbrunst hasste, für ihre Tarnung aber unerlässlich war.
Dan Faraday lächelte. Delaney war sicher, dass die meisten Kandidaten alle möglichen Every-Produkte trugen. Das war keine Anbiederei. Es war ein obligatorischer Einsatz, ehe das Spiel begann. Dan signalisierte ihr, die Straße zu überqueren und die öffentliche Uferpromenade anzusteuern.
Verzeih mir, dachte Delaney. Von jetzt an ist alles gelogen.