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Uwe Timm zum 85. Geburtstag - Ein Abend im Literaturhaus München

Uwe Timm auf der Bühne
© Catherina Hess

Es gratuliert: Kerstin Gleba, Verlegerin von Kiepenheuer & Witsch

Im ausverkauften Münchner Literaturhaus feierten wir letzte Woche unseren Autor Uwe Timm, der am Vortag 85 Jahre geworden war. In Anwesenheit zahlreicher Weggefährten stellten wir Uwe Timms Roman Der Mann auf dem Hochrad vor. 1984 war er als erste Veröffentlichung von Uwe Timm im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, aus Anlass des Geburtstags haben wir ihn schön ausgestattet neu aufgelegt. Ein höchst vergnüglicher, kluger Roman über Fortschritt und Widerstand, erzählt Der Mann auf dem Hochrad die Geschichte des Tierpräparators Franz Schröter, der Ende des 19. Jahrhunderts das Hochrad nach Coburg brachte. 

In der ersten Reihe des Saals saß - neben Dagmar Ploetz, Uwe Timms Ehefrau, seinen Kindern und Enkeln - die von Uwe Timm sogenannte “Verlagsfamilie”: die früheren Verleger von Kiepenheuer & Witsch, Reinhold Neven Du Mont und Helge Malchow, und zahlreiche weitere KiWi-Kolleginnen und Kollegen. Im Namen des ganzen Verlags durfte ich unserem hochverehrten Autor gratulieren:

»Uwe Timm ist - das ist ohne Frage - einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Sein Werk ist in viele Sprachen übersetzt und besitzt eine solche Vielfalt, dass es schwerfällt, alle Facetten dieses Werkes aufzuzählen: die frühen Gedichte, die Erzählungen, die Novellen, die Romane, die autobiographischen Texte, die Essays und Vorlesungen, die Kinderbücher, die Drehbücher. Sein Werk hat in den letzten Jahrzehnten eine überwältigende Anzahl von Ehrungen und Preisen erhalten. Uwe Timm ist Mitglied der wichtigsten Akademien der Künste dieses Landes. Seine literarischen Arbeiten sind Gegenstand unzähliger wissenschaftlicher Untersuchungen im In- und Ausland. Er ist einer der beliebtesten und meistgelesenen Autoren des Landes, bewundert von seinen Leserinnen und Lesern, hochangesehen von der Kritik und als öffentlicher Intellektueller, geliebt vom Buchhandel.

Uwe Timm ist mit seinem umfangreichen literarischen Werk, mit seiner unendlichen Belesenheit und reichen Bildung, mit seinem präzisen analytischen Blick für politische und gesellschaftliche Entwicklungen aber nicht nur ein großer Schriftsteller.

Darüber hinaus - und das ist etwas ganz besonderes und bedeutet mir sehr viel -  ist Uwe Timm mit seiner nie versiegenden Neugier, seiner Energie und Menschenfreundlichkeit, seiner genauen Beobachtungsgabe, seiner Zugewandtheit und seinem ästhetischen und ethischen Kompass für uns im Verlag Kiepenheuer & Witsch seit vielen Jahrzehnten spiritus rector und vertrauensvoller Ratgeber. Ein Leuchtturm - nicht nur für uns im Verlag, sondern auch für viele Autorinnen und Autoren.

Es gibt im Verlag keinen Autor, der in gleicher Weise, mit so großem Interesse und Wohlwollen die Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen verfolgt. Und auch andersherum ist es wahr: Uwe Timm wird von unzähligen Autorinnen und Autoren verehrt. Manch einer ist darunter, der es zunächst nicht glauben mochte, dass der große Uwe Timm Interesse an seiner Arbeit zeigte und anbot, man könne sich regelmäßig über die entstehenden Texte austauschen. Ungläubig sprach dieser Autor von einer Dichter-Freundschaft wie zwischen Frisch und Dürrenmatt, die ihm von Uwe Timm in Aussicht gestellt würde und die ihm wie ein Lottogewinn erschien. 

Wie groß die Bewunderung und Zuneigung für Uwe Timm ist, konnten Helge Malchow und ich vor gut fünf Jahren an der schieren Anzahl und dem rasanten Tempo der Zusagen ablesen - als wir nämlich Weggefährten Uwe Timms baten, einen Beitrag zu schreiben für einen Band anlässlich seines 80sten Geburtstags.

Beispielhaft sei hier Eva Menasse zitiert, die Uwe Timm einen “freundlichen Luftgeist” nannte und ihn so pointiert wie treffend folgendermaßen charakterisierte: “Er ist immer voller Anteilnahme, Neugier und Ermutigung, die diskursiven Wege mit ihm sind kurz und aufs Wesentliche gerichtet, die Gespräche klug, tiefschürfend und gänzlich blabla-frei.” 

Wie essentiell der literarische Austausch für den Schriftsteller Uwe Timm ist, lässt sich auch anhand seiner letzten Veröffentlichung nachvollziehen, dem “grandiosen Lebensbuch” - wie Holger Gertz es in der SZ nannte - Alle meine Geister, das 2023 erschienen ist. 

Zeitlich, genauer gesagt biographisch, schließt Alle meine Geister die Lücke zwischen Uwe Timms bedeutenden autofiktionalen Büchern Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde. Es führt uns in das Nachkriegs-Hamburg der 1950er Jahre, in die Zeit des Erwachsenwerdens des jungen Uwe Timm. “A Portrait of the Artist As A Young Man”.

Wir sehen den jungen Uwe, wie er - auf Wunsch, man möchte sagen: auf Anordnung - des Vaters das Handwerk des Kürschners erlernt. Präzision, genaues Hinschauen, Formgefühl, Gestaltungsvermögen, ein gutes Gespür fürs Material, Sorgfalt - all das lernt der junge Uwe bei seinen Meistern und Lehrherren. All dies sind Qualitäten, Fähigkeiten und Talente, die auch dem Schriftsteller Uwe Timm zu eigen sind. 

Denn - und das ist die zweite Ebene des Buches, kunstvoll verflochten mit der biographischen Ebene - wir erleben die Werdung des Schriftstellers Uwe Timm. Die beginnt, als er anfängt, das Lesen zu entdecken. Der junge Lehrling Uwe Timm, der sich selbst als verträumt schildert, sucht Lücken im Lehrlingsalltag, die ihm Zeit und Raum zum Lesen gewähren. Beides - Zeit und Raum - findet er in einem “Sortierzimmer” genannten Raum in der Kürschnerwerkstatt. Dort lässt er sich zunächst aufsaugen von den Geschichten der großen Polarforscher. Später von den Naturforschungen von Alexander von Humboldt oder Brehms Tierleben. 

Seit ich in Alle meine Geister von diesem “Sortierzimmer” las, wünsche ich mir einen Ort wie diesen. Allein schon die Vorstellung, es gäbe einen Ort, der dem Sortieren der Gedanken gewidmet ist, ist eine schöne Utopie - ich bin mir der Paradoxie bewusst - eine schöne Utopie, die im Zeitalter der Gleichzeitigkeit und Allverfügbarkeit umfassendster Informationen besonders hell leuchtet. Die Literatur selbst, ein Buch wie Alle meine Geister, kann ein solcher “Nicht-Ort”, ein utopos, sein. 

Und genau dort, in seinem literarischen Werk, fragt Uwe Timm nach den Wurzeln unseres Denkens, unserer Ideologien, unserer Träume - und nach den Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Ob in seinem Roman Morenga, in dem er die Geschichte des deutschen Kolonialismus dekonstruiert und neu erzählt, in Am Beispiel meines Bruders, in dem er sich schmerzhaft und berührend mit der Frage der Schuld, deutscher Geschichte und familiärer Erinnerung auseinandersetzt, oder in seinem Roman Ikarien, in dem er die großen utopischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts untersucht. Immer gelingt es Uwe Timm, uns die Vergangenheit als lebendige Kraft vor Augen zu führen, als etwas, das nachwirkt und unser Heute bestimmt. Der Hölderlinsche Gedanke, dass die Vergangenheit erst durch die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ihre Vollendung findet, zieht sich seit Uwe Timms Debüt Heißer Sommer aus dem Jahr 1974 leise durch sein gesamtes Werk.

Doch Uwe Timms Bücher sind mehr als eine Reflexion der Geschichte. Sie sind lustvoll, geprägt von Humor und Wärme. Sein Schreiben verbindet das Sinnliche mit dem Abstrakten, das Politische mit dem Poetischen. Uwe Timm hat ein feines Gespür für Melodien, für Klang, für Rhythmus. Und er besitzt eine unermüdliche Neugier, eine Lust am Erzählen, die ansteckend wirkt. In einem seiner Bücher heißt es über das Schreiben: „Wie schaffe ich es, dem Stoff, dem 'Energiegebräu', eine Form, eine Gestalt zu geben – das Erzählte also gleichzeitig zu fixieren und lebendig zu halten?“ 

Der heutige Abend, lieber Uwe, liebes Publikum, ist für mich ein Moment, innezuhalten, Dir meine Bewunderung und meinen tiefen Respekt auszusprechen für Deine große Kunst, das Lebendige zu gestalten und die Literatur zum Leuchten zu bringen

Zu Deinem 85igsten Geburtstag gratuliere ich Dir im Namen des ganzen Verlages von Herzen. Dein Werk leuchtet weiter, und wir freuen uns auf alles, was noch kommt.«

 

Köln/München, 30./31. März 2025

Kerstin Gleba

 

Uwe Timms Geburtstag
© Catherina Hess
Uwe Timms Geburtstag
Uwe Timms Geburtstag

Bild 1: Uwe Timm im Münchener Literaturhaus.

Bild 2: Tanja Graf (links) und Verlegerin Kerstin Gleba mit Autor Uwe Timm.

Bild 3: Kerstin Gleba gratuliert Uwe Timm in einer Rede.

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Isolde Ohlbaum
© Isolde Ohlbaum
Uwe Timm

Uwe Timm ,  geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u. a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020), »Alle meine Geister« (2023).

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