Gastspiel

»Es hilft«: Kurt Kister über Uwe Timms »Am Beispiel meines Bruders«

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© Rudi Linn

Verstehen fällt in diesen Tagen schwer, die Wucht der schockierenden Bilder aus der Ukraine lässt uns die Ereignisse kaum begreifen - doch manchmal gibt es Bücher, die dabei helfen können. Aus diesem Grund möchten wir Ihnen eine Buchempfehlung von Kurt Kister, dem langjährigen Chefredakteur der Süddeutsche Zeitung, nicht vorenthalten: In seinem lesenswerten Wochenbrief »Deutscher Alltag« (vom 7. März 2022) berichtet Kurt Kister, wie ihn die Lektüre von »Am Beispiel meines Bruders« von Uwe Timm beeindruckt und wohl auch berührt hat. Weil Uwe Timm darin versucht, ein Schicksal (das seines Soldaten-Bruders) zu verstehen, das kaum zu verstehen ist, und weil jeder Krieg, auch der jetzige, aus genau solchen Familiengeschichten und unbegreiflichen Schicksalen besteht.

Wir zitieren Kurt Kister:

»Die schrecklichen Nachrichten aus der Ukraine haben mich dieser Tage wieder einmal zu einem Buch greifen lassen, das mich schon vor fast 20 Jahren – es erschien 2003 – sehr beeindruckt hat. Es heißt ›Am Beispiel meines Bruders‹, Uwe Timm, Jahrgang 1940, hat es geschrieben. Timm ist ein sehr bedeutender Autor, eigentlich ein großer. Er kann mit einem Lächeln über eine Tragödie schreiben, und er versteht es, Geschichte so in seine Erzählung zu verweben, dass sie verständlicher Alltag wird. Timm hatte einen älteren Bruder, 1924 geboren, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 in der Ukraine in einem Lazarett starb. Dieser Bruder war in Kiew und in Charkiw (damals Charkow) eingesetzt, Städte, welche die Deutschen bei Eroberung und Rückeroberung sehr gründlich zerstörten.

Der Bruder führte ein rudimentäres Tagebuch, in dem Uwe Timm auch grausam-großsprecherische Eintragungen fand wie etwa: ›75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG‹. 19 Jahre war Timms Bruder Karl-Heinz zu jener Zeit, ein zu groß gewordenes Kind, das zu schnell erwachsen wurde und starb, bevor es leben konnte. Sein letzter Eintrag stammt aus dem August 1943 und lautet: ›Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.“ Einen Brief vom 30. September 1943 an den Vater, geschrieben im Lazarett, gibt es auch noch. Aus ihm zitiert Uwe Timm: ›… ich bekam einen Panzerbüchsenschuß durch beide Beine, die sie mir nun abgenommen haben…‹. Zwei Wochen später war Uwe Timms Bruder tot.

Das Buch ist eine Familiengeschichte, auch wenn der Bruder selbst ein Täter war. Jeder Krieg besteht auch aus unzähligen Familiengeschichten wie jener, die Uwe Timm erzählt hat, nicht zuletzt, weil er versuchen wollte, seinen Bruder, der seit Jahrzehnten tot ist, zu verstehen. Verstehen? Kann man wahrscheinlich nicht. So wenig man verstehen kann, was in den Köpfen der 19-jährigen Russen vorgeht, die in dieser Minute auf 19-jährige Ukrainer schießen.

Sollten Sie dieser Tage die Zeit haben, lesen Sie ›Am Beispiel meines Bruders‹. Haben Sie es schon mal gelesen, tun Sie’s noch mal. So banal das klingt: Es hilft.«

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