Verlegerin Kerstin Gleba über das KiWi-Frühjahrsprogramm 2023
Wie viele Weltenden, Zeitenbrüche sind in der Geschichte und in der Literatur schon ausgerufen worden?
Die Realität gibt vor; die Kunst sucht die Sprache, die Form, das Ungeheuerliche zu fassen. »Im Westen Nichts Neues«, Erich Maria Remarques Anti-Kriegs-Klassiker aus dem Jahr 1929, gerade beeindruckend neu verfilmt und zum 125. Geburtstag des Autors im Juni 2023 neu aufgelegt, ist ein auch heute noch hochaktuelles Beispiel für diese Kunst.
Unsere bekannte und vertraut gewordene westliche Weltordnung fliegt uns dieser Tage um die Ohren wie dem Bürger vom Kopf der spitze Hut in Jakob van Hoddis’ Gedicht »Weltende«. Mehr denn je übermannt uns das Gefühl, nur noch notdürftig auf äußere Krisen reagieren zu können, statt das eigene Leben, das Umfeld, die Gesellschaft zu gestalten. Es gab schon andere finstere Zeiten, und doch erscheint der eigene Gestaltungsspielraum vielen gegenwärtig als besonders eng.
Diesem Ohnmachtsgefühl wollen wir mit unseren Büchern entgegentreten. Die Neuerscheinungen, die wir Ihnen im Frühjahr 2023 präsentieren, sind so vielfältig wie die Wirklichkeit. Sie unterscheiden sich in Ton, Thema, Zugriff, Genre. Was sie eint: Jedes Buch ist ein Versuch der Verständigung. Mit sich, mit der Welt, mit den Leserinnen und Lesern.
Es wundert nicht, dass sich viele Romane in unserem Frühjahrsprogramm mit existenziellen Grunderfahrungen und Krisen auseinandersetzen. Sie erzählen von Einsamkeit und dem Verlust eines geliebten Menschen (Adriana Altaras) oder, andersherum, von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die stete Teilhabe fordert (Dirk Gieselmann), von einem, dem erst das Geld, dann das Leben und die Gesellschaft abhanden kommen (David Schalko), von der Annäherung zwischen einem Täter und Opfer in einem MeToo-Skandal (Virginie Despentes), vom Fremdsein im eigenen Körper (Henri Jakobs), vom Überleben in der kaputten Welt von morgen (Jessie Greengrass), vom Horror in den Achtzigern (B.E. Ellis) oder von einem traurigen Jahr, als wäre es das schönste des Lebens gewesen (Dirk von Lowtzow).
Das Wunder dabei ist: mit welch erzählerischer Eleganz und Leichtigkeit die großen Fragen der Gegenwart gestellt werden. Wie viel Komik, Neugier, Zärtlichkeit, Überschwang wir bei aller Ernsthaftigkeit in den Büchern finden. Euphorie und Melancholie, Präzision und Poesie – die ganze Schönheit der Literatur.
Die aktuellen Krisen und deren Analyse sowie mögliche Überwindung schlagen sich im Sachbuch natürlich genauso nieder. Sie widmen sich der Ohnmacht des Westens angesichts der aufsteigenden Weltmacht China (Obermaier, Obermayer et al.), der spezifisch deutschen Debatte um den Nahostkonflikt (Meron Mendel) oder dem wenig breit bekannten Phänomen des ADHS im Erwachsenenalter (Angelina Boerger).
Vor 100 Jahren hielt Thomas Mann seine berühmte Rede »Von deutscher Republik«, die als politischer Wendepunkt in Manns Werk gilt. Welch bedeutende Rolle das Meer zeitlebens für Thomas Mann gespielt hat, schildert Volker Weidermann in seinem mitreißend erzählten biografischen Buch »Mann vom Meer«. Schöner kann man das Leuchten der Literatur, ihre Fähigkeit, Ambivalenzen und Untiefen auszuloten und das Dunkle zu erhellen, nicht beschreiben.
Viel Freude, viel Licht und viel Vergnügen mit unseren Büchern wünsche ich Ihnen im Namen aller KiWi-Kolleg*innen.
Kommen Sie gut durch den Winter.
Kerstin Gleba
Verlegerin