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Interview mit Alina Bronsky zu »Pi mal Daumen«

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Liebe Alina Bronsky,

Bist du eigentlich gut im Kopfrechnen?

Überhaupt nicht. Ich habe die deutschen Zahlen erst auf dem Gymnasium gelernt und habe seitdem immer noch Schwierigkeiten, sie akustisch zu verstehen. Das Zahlensystem, bei dem die Einer-Ziffer vor der Zehner-Ziffer genannt wird, scheint meinem Gehirn zu verdreht. Mit Stift und Papier klappt aber das Rechnen halbwegs.

Und trotzdem hast du jetzt über zwei Mathematikstudenten geschrieben. Wie und wo bist du auf dieses ungewöhnliche Setting für deinen neuen Roman gekommen?

Tatsächlich in der Mensa. Es gab eine Zeit in meinem Leben, als ich nochmal ein Studium begonnen habe. Da war ich, ich sag mal so, schon deutlich über dreißig, mit Kindern gesegnet und natürlich viel älter als die meisten Kommilitonen. Und ich war interessanterweise nicht die Einzige. Da sitzt man an seinen wöchentlichen Hausaufgaben, wenn die Kinder im Bett sind und die andere Arbeit erledigt ist, und verflucht alles. Vom ersten Tag an dachte ich, die Komik dieser Situation schreit nach einem Roman.

Stammt aus dieser Zeit das mathematische Fachwissen in »Pi mal Daumen«? Oder musstest du dafür eigens recherchieren? 

Beides. Ich habe in meinem Studium auch mathematische Vorlesungen und Seminare belegt. Von „Fachwissen“ würde ich bei mir zwar nicht sprechen, aber ich habe den Hauch einer Idee davon bekommen, was Mathematik bedeuten kann. Nämlich viel mehr Spiel und Spaß, als die meisten denken.

In deinem Roman treffen zwei völlig unterschiedliche Charaktere aufeinander: Moni ist Anfang Fünfzig, hat drei Enkel und mehrere Nebenjobs. Der hochbegabte Oscar ist 16 Jahre jung, trägt einen Adelstitel und leicht autistische Züge. Zwei, die sich wohl nie über den Weg laufen würden und doch ziemlich beste Freunde werden. Was hat dich dazu veranlasst, ausgerechnet diese Kombination zu wählen und die Beziehung dieser beiden näher zu beleuchten?

Ich glaube, die beiden hätten durchaus viele Gelegenheiten, sich zu begegnen. Allerdings würde jemand wie Oscar, der sich zur geistigen Elite zählt, jemanden wie Moni normalerweise gar nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist für mich das Spannende an der Konstellation: Moni ist eine Frau, die so viel auf ihren Schultern trägt, aber immer übersehen und unterschätzt wird. Oscars Blick auf sie ist anfangs geradezu verächtlich. Umso größer ist
später die Zuneigung.

Moni passt mit ihrem knalligen Lippenstift und tiefen Ausschnitt, in Lederrock und Leopardenbluse so gar nicht ins Logik-Seminar. Ein Mathematik-Studium würde ihr wohl kaum jemand zutrauen. Was möchtest du durch diese ungewöhnliche Figur den Leserinnen und Lesern mitgeben?

Moni war so ein Geschenk an mich selbst, weil ich so viel Spaß mit ihr hatte. Sie ist großzügig und bescheiden, und sie will niemandem etwas beweisen - außer sich selbst. Deswegen fliegen ihr die Herzen zu. Ich würde mich freuen, wenn es Leserinnen und Lesern auch so geht. Mir ging es auch um die Frage: Wo wird Talent verschwendet? Wem trauen wir Intelligenz zu und warum? Welche Rolle spielt die Farbe des Lippenstifts bei der Fähigkeit zu abstrahieren? Moni wird aus drei Gründen unterschätzt: Sie wirkt naiv, absorbiert von Familienpflichten – und gilt als zu alt für einen Neustart.

Ohne zu spoilern: Monis Studienverlauf ist ganz anders, als alle erwarten. Gibt es dafür Vorbilder? Kann man in jedem Alter akademisch neu starten?

Das ist genau die Frage, mit der Moni im Roman konfrontiert ist. Natürlich ist ihre Geschichte auch ein wenig märchenhaft. Aber ich bin überzeugt, dass man manchmal erst in einem höheren Alter Interesse und Abstraktionspotenzial für bestimmte Inhalte entwickelt. Jedenfalls war es bei mir so. Übrigens gibt es in der Geschichte der Mathematik Autodidakten (und Autodidaktinnen), deren Forschungsergebnisse heute fundamental sind, obwohl sie selbst nie studiert haben.

Warum ausgerechnet Mathematik? Hätte Moni nicht auch Chemie oder Physik studieren können?

Ich hatte tatsächlich darüber nachgedacht – weil ich selbst irgendwann gerne Chemie studiert hätte. Und deswegen weiß ich: Mathematik kann durchaus familienfreundlich sein. Man muss keine wochenlangen Laborpraktika absolvieren, man ist oft allein mit dem Blatt, dem Stift, dem Theorem. Man kann sich die Zeit selbst einteilen, braucht kaum Hilfsmittel. Mathematik ist nicht nur die Königin der Wissenschaften, sie kann auch Selbstbestimmung und Chancengleichheit ermöglichen.


Vielen Dank für das Gespräch, liebe Alina Bronsky!

Alina Bronsky

Alina Bronsky

Alina Bronsky, geboren 1978, lebt in Berlin. Ihr Debütroman »Scherbenpark« wurde zum Bestseller und fürs Kino verfilmt. »Baba Dunjas letzte Liebe« wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein großer Publikumserfolg. 2019 und 2021 erschienen ihre Bestseller »Der Zopf meiner Großmutter« und »Barbara stirbt nicht«.